Pastoraler Prozess

Predigt zu Kreuzerhöhung, 14. 9. 2014, in Liebfrauen, Bielefeld

anlässlich des Beginns des Pastoralen Raumes

(Pfarrer Bernhard Brackhane)

 

Ich mache es wie am letzten Sonnabend: ich sage Ihnen die Kernaussage der Predigt am Anfang. So können auch alle, denen es zu lang wird, die Quintessenz mitnehmen:

Wer sich von Jesus mit der Schwester, dem Bruder verknüpfen läßt, wer sich hineinbegibt in menschliche Not und sie in Liebe verwandelt, der durchschaut das Kreuz und begegnet Christus.

Aber jetzt – wie immer - der Reihe nach.

1.   Liebe Schwestern und Brüder,

gestern hatte diese Kirche Unserer Lieben Frau Namenstag: Mariä Namen. Wir feiern heute abend Wiederannäherung und Begegnung zwischen dieser achtzigjährigen Muttergemeinde mit ihren östlich gelegenen Gemeindetöchtern, die vor knapp sechzig Jahren in die Selbständigkeit entlassen wurden. So etwas gibt es gar nicht so selten auch in unserem persönlichen Leben: Nach einer wichtigen Zeit der Entfaltung, des selbständigen, eigenbestimmten Lebens finden Generationen unter neuen Umständen wieder zusammen, lernt man neu, nacheinander zu schauen: aus Wohlwollen und Interesse, ohne Anspruch auf Kontrolle. Man spürt, wo Unterstützung gut tut, wo Nähe zueinander mehr ermöglicht und freisetzt, ehe der eine oder die andere in eine hilflose Situation gerät. Warum sollten wir das für unsere Gemeinden nicht auch entdecken?

2.   Häufig haben Marienkirchen eine bestimmte Charakterisierung: Maria, Trösterin der Betrübten oder Heil der Kranken. Mir kam eine solche Idee für diese Kirche an diesem besonderen Abend: Ich würde (wenigstens im Stillen) Liebfrauen Bielefeld gern mit dem Titel versehen: Mutter unter dem Kreuz, Schwester der Suchenden.

Mit Unserer Lieben Frau und ihren Töchtern neu und eng verbunden sind dazu die Geschwister unter dem Titel Maria Königin mit der heutigen Patronatskirche Hl. Kreuz und der Gemeinde des Hl. Joseph. So nahe Verwandtschaft und gemeinsame Geschichte sind kein Grund zur Skepsis sondern Anlaß zu gemeinsamem mutigem Aufbruch wie es die Eltern Jesu Maria und Josef ihrerseits oft getan haben. Mehr noch: So wurden sie Teil der Heilsgeschichte Gottes mit den Menschen! Sollte Gott uns hinter dem Stichwort „pastoraler Raum“ neuen Lebensraum eröffnen? Spielraum? Glaubensraum? Sollte er uns unsere eigene Heilsgeschichte darin entdecken lassen - bei der Mutter unter dem Kreuz, der Schwester der Suchenden?

3.   Ein bedeutender Anlaß, ein glanzvolles Fest, viele freudig gestimmte und gespannte Teilnehmer – heute, am 13. September –  vor 1679 Jahren!  Kaiser Konstantin hat in Jerusalem über dem Heiligen Grab Christi eine prächtige Kirche errichten lassen. Am 13. September des Jahres 335 wird sie feierlich geweiht. Einen Tag später zeigt man dem gläubigen Volk das Kreuzesholz Christi, das seine Mutter Helena dort aufgefunden hatte. So erhält der Festtag seinen bis heute bekannten Namen: Kreuzerhöhung.

Liebe Schwestern und Brüder,

mit Kaiser Konstantin können wir heute nicht ganz mithalten. Dennoch gilt auch für uns wie damals: Ein besonderer Anlaß, viele gespannte Teilnehmer, manche freudig gestimmt – heute, am 13. September 2014!

Es wäre allerdings gotteslästerlich, wenn wir behaupten würden: Im Gegensatz zu Kaiser Konstantins Festgesellschaft feierten wir nicht den auferstandenen Christus am Heiligen Grab, sondern uns führte heute so etwas wie eine Beerdigung zusammen: das Begraben unserer früher einmal glücklichen Nachkriegs-Kirchengeschichte. Nein, so nicht! Wir stimmen nicht den enttäuschten Abgesang unserer Zukunftshoffnungen an. Nein, wir begraben nicht, was Generationen von Laien, Ordenschristen und Priestern mit Glaubensfreude, Opferbereitschaft und Fleiß in den Gemeinden des Bielefelder Ostens aufgebaut haben. Wir feiern Aufbruch und Auftakt – ohne Jubelgeschrei und „la ola“, nicht überschwenglich, aber doch mit Fug und Recht: Wir begehen festlich den Beginn eines neuen Abschnitts unserer Ortskirchengeschichte.

4.  Schauen wir noch einmal kurz die 1700 Jahre zurück: Es ist für uns kaum vorstellbar, wie die Christen des vierten Jahrhunderts anbetend und ergriffen auf die Kreuzreliquie geschaut haben werden. Aber was haben sie gesehen? Ich nehme nicht an, ein ganzes Kreuz wie es auf Golgotha gestanden hatte, hochragend und abschreckend, von jeder Stelle Jerusalems aus für jeden sichtbar. Aus der Forschung wissen wir, daß der Längsbalken aus rein praktischen Gründen vermutlich fest in der Erde stand. Ein Verurteilter war lediglich an das Querholz fixiert, das er mühevoll zur Hinrichtungsstätte zu schleppen hatte. An diesem zog man ihn dann bei der Kreuzigung am Längsbalken in die Höhe.

Vielleicht haben die Menschen damals, am ersten Fest der Kreuzerhöhung, also nur Reste eines schwarzen Balkens gesehen – vielleicht so ähnlich wie die eines zusammengebrochenen Fachwerkhauses. Aber diesen Balken haben sie durch - schaut: in ihrer gläubigen Phantasie entstand das Bild des gekreuzigten Erlösers Christus. Noch heute begleitet ja ein alter Gebetsruf die Kniebeuge wenn der Kreuzweg gebetet wird: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ Die Christen des Altertums sahen mit den Augen altes, verwittertes Holz - und schauten im Glauben Christus. Das könnte uns heute im Bielefelder Osten am Fest der Kreuzerhöhung leiten: ein unserer Zeit und Glaubensweise angemessenes Schauen auf das Kreuz, das Zeichen unserer Hoffnung – und darin ein Durch-schauen: den uns zugewandten gekreuzigten Erlöser Jesus Christus selbst.

5.   Auch wir haben am Beginn der Messe eine Art Kreuzerhöhung vollzogen: Dechant Fussy hat uns ein von Hand gefertigtes, hier entstandenes Kreuz übergeben: Das Holz stammt vom Dachboden einer unserer Kirchen, der Seilknoten erinnert an die Tradition der Fischerei. Das Seilkreuz kennen wir von unserem gemeinsamen Osterbild. Es verbindet oben und unten - Himmel und Erde - und links und rechts – die Menschen untereinander Die Verbindung ist in der Mitte: Christus. Er, die Mitte, verbindet Himmel und Erde - und die Menschen untereinander. Dieses Kreuz haben wir in unserer Mitte „erhöht“, um darauf zu schauen, um darüber nachzudenken und über unsere heutige Berufung: Himmel und Erde sollen wir verbinden wie Christus. Sein Gebet lautet ja: Der Wille Gottes geschehe – wie im Himmel so auf Erden. Wir Christen sind wie ein Baum – allerdings auf den Kopf gestellt: Im Himmel eingepflanzt und verwurzelt durch die Taufe; aufblühen und Frucht bringen tun wir auf der Erde, wenn das gehörte und gelebte Evangelium die Liebe in uns wachsen läßt. Gott will durch die gelebte und verkündigte Liebe die Menschen aller Himmelsrichtungen verbinden - verbinden über die Mitte Christus, den Knotenpunkt.

6.  Wenn wir vom Kreuz sprechen, haben wir vielleicht – wie die Christen des Altertums - so etwas wie schwarze Balken im Blick, die das Leben schwer, freudlos, unerlöst machen; an denen es scheitert oder gescheitert ist:

Wir sehen den schwarzen Kreuzesbalken der Epidemien, der Kriege, der Gewalt gegen Schwache, vor denen wir im 21. Jahrhundert genauso machtlos stehen wie die Menschen vor Jahrhunderten.

Wir sehen den schwarzen Balken der Enttäuschung über die Kirche im Großen: früher anerkannt und geachtet, manches glanzvoll und beeindruckend; und heute? Wenn man von Papst Franziskus absieht, scheint die öffentlich wahrgenommene Kirche selber für einen Skandal nach dem anderen zu sorgen und macht sich damit sogar rückwirkend unmöglich. 

Wir sehen den schwarzen Balken der Enttäuschung im Gemeindeleben: Vieles wurde in der Geschichte unserer Gemeinden aufgebaut; heute scheint Vieles davon abgebrochen zu sein.

Das Schwarzsehen, das Balkenwahrnehmen entdecke ich bei mir selbst: mit 57 Jahren bin ich bewußt aufgebrochen aus eingespielten Lebensumständen, um mich durch einen anderen Auftrag des Bischofs Gott noch einmal neu zur Verfügung zu stellen. Ich spüre: Überlegungen zu einer veränderten Sicht auf unsere Mitmenschen und ihren Alltag, Einladungen zu frischen Ideen und Aufbruchsversuche, wie sie mich bewegen, sind nicht überall gefragt. An einer Stelle erlebe ich, wie sich emotionale und reale Räume verengen oder sogar verschließen, wo ich Offenheit und Weitung erhofft hatte.

Bei einem Hausbesuch entdeckte ich den schwarzen Balken sogar an einer unerwarteten Stelle: Das alte Ehepaar lebt in gesicherten, großzügigen Verhältnissen, schaut dankbar zurück auf alles, was Gott ihm nach dem Verlust der Heimat an Aufbau und Wohlstand ermöglicht hat. Beide haben sich in Großzügigkeit mit anderen geübt – und sie sehen doch den schwarzen Balken alles aufgeben zu müssen, weil die Hinfälligkeit und Last des Alters ihnen nach und nach alle Selbstbestimmung nimmt.

„Gekreuzigter Erlöser, erbarme dich über uns und über die ganze Welt.“ – so hat man früher mit tiefem Ernst gebetet, wenn solche Kreuzerfahrungen das innere und äußere Leben abwürgten. Wie kann es gelingen, wie die Christen zur Zeit Kaiser Konstantins diese Balken zu durchschauen und dahinter den gekreuzigten Erlöser Christus zu erkennen? Wie kann Kreuzerhöhung geschehen?

7.  Schauen wir - wie am Anfang - auf Unsere Liebe Frau, die Mutter unter dem Kreuz, die Schwester der Suchenden. Vom Kreuz herab knüpft der irdische Jesus die Beziehung zur Mutter und zum Jünger Johannes von sich los und verknüpft sie untereinander: „Frau, siehe, dein Sohn“, sagt er zu Maria und zu Johannes: „Siehe, deine Mutter“ (Joh 19,27). Der, der im irdischen Leben mit allen Bedürftigen und Suchenden in Liebe umgegangen ist, der sich im Abendmahl verschenkt mit Leib und Blut als Vorauszeichen und dann total am Kreuz, der gekreuzigte Erlöser ist bis in der äußersten Verlassenheit hinein ganz Liebe für die Seinen. Seine Liebe engt nicht ein, ist kein isoliertes Privileg, sondern Geschenk für alle.

„Und von jener Stunde an nahm sie der Jünger zu sich“ (Joh  19,27b) Wer den Schmerz in Liebe verwandelt und annimmt, durchschaut die schwarzen Balken des Todes, stößt durch den Tod hindurch in ein anderes Leben: „Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.“ Kreuzerhöhung heißt: höher, weiter, tiefer schauen, sich von Gott den Erdenblick in Himmelschau verwandeln zu lassen.

Wer sich von Jesus mit der Schwester, dem Bruder verknüpfen läßt, wer sich hineinbegibt in menschliche Not, in Abgelehntwerden und in Einsamkeit und sie in Liebe verwandelt, wer durch das Evangelium die Kunst erlernt, aus Verstrickungen tragende Beziehungsnetze zu machen, der durchschaut das Kreuz und begegnet Christus. Das ist Kreuzerhöhung.

Das veranschaulichen die Kerzenträgerinnen des Anfangs, indem sie ein Knotenkreuz, wie es auch auf jeder Kerze zu sehen ist, mit dem großen Netz, das über dem Taufstein hängt, verknüpfen. Es steht für die in den Gemeinden verbundenen, tätigen und wohnenden Menschen, für ihre Lebensfragen, -aufgaben und Leiden.

Wir beten dich an, Herr Jesus Christus, und preisen dich,
denn durch dein heiliges Kreuz hast du die Welt erlöst.

Amen.